von Prof. Dr. Klaus Neumann
Ein unverzichtbares europäisches Kulturerbe
Prof. Neumann ist Präsident der Deutschen Gartenbaugesellschaft 1822. Foto (Ausschnitt): S. Bergemann.
Zur Geschichte der deutschen Stadt- und Gesellschaftsentwicklung und zum heutigen Erscheinungsbild nahezu aller europäischen Metropolen gehört die vor über 200 Jahren in Deutschland ins Leben gerufene Bewirtschaftung von Gartenflächen – den Kleingärten. Anfang des 19. Jahrhunderts von der staatlichen Obrigkeit kostenfrei oder gegen geringes Geld den sozial Schwächeren mit der Intention zur Verfügung gestellt, dem Hunger und sozialen und politischen Unruhen entgegenzuwirken, sind sie zwar ein Relikt einer fernen Epoche, aber zugleich hochmodern.
Um 1806 erbaute Landgraf Carl von Hessen in Kappeln an der Schlei die ersten kleinen Gartenanlagen. Bereits 20 Jahre später fand man solche Gärten für Ernährung und Befriedung in 19 weiteren Städten. Aus diesem sozialen wie politisch bedingten Engagement des Souveräns für seine Bürger hat sich in Deutschland ein Kleingartenwesen entwickelt, das in dieser Form weltweit nahezu einzigartig ist.
Heute umfasst es in Deutschland mehr als eine Million Kleingärten und über 46.000 ha Kleingartenfläche. Es hat eine immense gesellschaftliche, ökologische, soziale und politische Bedeutung. Angesichts der Herausforderungen bei den Themen Urbanisierung, demografische Veränderungen, gesellschaftlicher Wandel, Biodiversitätsverlust und Klimawandel sind Kleingärten und das Kleingartenwesen lebensnotwendige grüne Hotspots im unendlichen Meer von urbaner Verdichtung und Versiegelung. Sie sind notwendiger denn je.
Stadtplaner, Architekten, Naturwissenschaftler, aber auch Mediziner, Sozial-Empiriker, Integrations- und Migrationsbeauftragte und Politiker haben erkannt, dass sich das tradierte Kleingartenwesen zum naturkulturellen Juwel der Stadtentwicklung des 21. Jahrhunderts entwickelt. Dennoch bedarf es einer zeitgemäßen Wertschätzung mit entsprechendem Schutz. Es ist nicht nur die „materielle Kultur“ einzelner Kleingärten oder Kleingartenanlagen, die es planungs- wie baurechtlich dauerhaft zu schützen gilt. Es ist die „immaterielle Kultur“, welche die gemeinsame Geschichte aufzeigt, Wissen erhält und für die Gestaltung der Zukunft vermittelt. Jedes immaterielle Kulturerbe wird durch das Engagement seiner Trägergemeinschaften lebendig gehalten, weitergegeben und weiterentwickelt.
Genau das geschieht im Kleingartenwesen seit gut 200 Jahren. Bereits 2003 hat die Unesco-Generalkonferenz ein Übereinkommen zur Erhaltung des „Immateriellen Kulturerbes“ verabschiedet. Deutschland, als einer von mittlerweile 180 Vertragsstaaten, ist dem Übereinkommen 2013 beigetreten. „Immaterielles Kulturerbe“ ist lebendig und an Menschen gebunden, die es ausüben und kreativ weiterentwickeln. Ausschlaggebend für die Erhaltung immateriellen Kulturerbes ist, dass Traditionen und Werte, Wissen und Können von Generation zu Generation aktiv weitergegeben werden.
Das Kleingartenwesen mit seiner gut 200-jährigen Intention zum Umgang des Menschen mit der (Garten-) Natur und dem daraus abgeleiteten Obligo zur Bewahrung und Weiterentwicklung der natürlichen Ressourcen und mit seinen gesellschaftlich-sozialen Komponenten zum „Leben in der Gemeinschaft“ spiegelt diesen Ansatz des Begriffs „Kultur“ wieder. Unzweifelhaft ist die Geschichte des Kleingartenwesens ein Stück deutscher und europäischer Kulturgeschichte. Ein Stück der Gesellschafts-, Bau- und Naturkultur, welches es zu schützen und zu bewahren gilt und das in seiner inhaltlichen und organisatorischen Ausstrahlung einzigartig ist.
Prof. Dr. Klaus Neumann
Präsident Deutsche Gartenbau-Gesellschaft (DGG)
Dieser Beitrag ist als Editorial der Februar-Ausgabe 2022 der Verbandszeitschrift "Berliner Gartenfreund" erschienen und mit freundlicher Genehmigung des Autors auch hier online.